Ich weiss, solche Beiträge lassen einen alt aussehen, aber der Zahn der Zeit nagt an uns allen. Heute vor 30 Jahren erschien im Blick die erste und für lange Zeit die letzte Game-Besprechung. Das ist für mich Anlass genug, um ein paar Gedanken zur Entwicklung von Schweizer Mainstream-Medien zu teilen, insbesondere wenn es um Videospiele geht.
Im Oktober 1994 vertrat ich den damaligen Filmkritiker Vinzenz Hediger, einen guten Freund und heute Professor für Filmwissenschaften an der Goethe Universität in Frankfurt am Main, beim Boulevard-Blatt Blick. Die auf Zeichen getippten Beiträge legte ich jeweils Chefredaktor Fridolin Luchsinger in seinem von Zigarrenrauch geschwängerten Büro vor. Als es wieder einmal so weit war, wies ich Herrn Luchsinger auf zwei Videospiele hin, die eben für Segas Mega Drive erschienen waren: «In diesen Games kann ich die Comic-Helden Spider-Man und Hulk spielen. Das macht wirklich Spass, und viele Leute kennen diese Figuren.» Fridolin Luchsinger schaute mich mit leicht zusammengekniffenen Augen scharf an, zog an seiner Monte Christo und sagte: «Herr Bodmer, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, aber wenn Sie das Gefühl haben, dass es die Sache wert ist, dann gebe ich Ihnen eine halbe Seite.»
In den darauffolgenden 30 Jahren ist mir diese Offenheit und bis zu einem gewissen Grad Risikobereitschaft oder besser gesagt das Vertrauen in die Fachkenntnis der Mitarbeitenden nur noch einmal begegnet: Bei der viel geschmähten Weltwoche. Dort gibt der ehemalige NZZ-Folio-Chefredaktor Daniel Weber seit 2020 den Kulturteil heraus und ist bei seinen inhaltlichen Entscheidungen unabhängig. Zu diesen gehört, dass er auch Computerspiele zu den Kulturformen zählt, obschon er – wie er selbst sagt – keine Ahnung davon hat.
Noch nie waren Videospiele beliebter als heute
Selbst der Bundesrat hat im Frühjahr 2018 die Schweizer Game-Industrie als «innovativen Querschnittsbereich des Kulturschaffens» erkannt, aber die Schweizer Mainstream-Medien tun sich trotzdem sehr schwer mit dem Leitmedium der Gegenwart. Waren Artikel und Besprechungen vor rund 15 Jahren fester Bestandteil der Neuen Zürcher Zeitung, Blick, 20 Minuten oder auch auf Radio SRF, um nur ein paar zu nennen, so sind Games heute aus den Kultur- und Feuilleton-Seiten verschwunden. (Auch Besprechungen von neuen Musikalben, Filmen und Büchern scheint ein ähnliches Schicksal zu drohen.)
Die Absenz von Computerspielen ist besonders seltsam, weil sich das interaktive Medium einer noch nie dagewesenen Beliebtheit und demografischen Diversität erfreut. Laut der jüngsten Digimonitor-Studie von IGEM, der Interessengemeinschaft Elektronische Medien Schweiz, spielt jede vierte Schweizerin über 55 Jahre täglich, und mehr als die Hälfte der hiesigen Bevölkerung gönnt sich gelegentlich ein Spielchen. Weltweit sind es rund 3,2 Milliarden Menschen, die sich hauptsächlich am Handy die Zeit vertreiben.
Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass die Game-Industrie 2023 laut den Analysten von Price Waterhouse Coopers PWC global $ 227,6 Milliarden umsetzte. Zum Vergleich: Gemäss der World Intellectual Property Organization Wipo hat die weltweite Filmindustrie um 30 Prozent wieder zugelegt und verbuchte gut $ 33 Milliarden an der Kinokasse. Der Video- und Streamingmarkt scheffelte gemäss PWC gut $ 124 Milliarden im gleichen Jahr. Die Musikindustrie setzte fast $ 29 Milliarden um. Kurz: Videospiele, oft als der kleine, doofe Bruder der Filmindustrie belächelt, zeigen seit Jahren, wo es in Sachen Unterhaltung langgeht – ob das einem gefällt oder nicht.
In Gerda: A Flame in Winter gerät eine Krankenschwester im von Nazis besetzten Dänemark zwischen die Fronten.
Der wachsende Erfolg liegt in der Genre-Vielfalt begründet, die locker mit der der Spielfilme mithalten kann. Es gibt schlicht für jeden Geschmack ein Game. Da sind Popcorn-Spiele, kurzweilig und Runden basiert, die vorzugsweise auf dem Smartphone gespielt werden. Hochkompetitive Titel wie Fortnite, Rainbow Six Siege oder League of Legends sprechen die geschickten Taktiker mit hohem Reaktionsvermögen und Überblick an. Fans von Fantasy-Welten wie Lord of the Rings fühlen sich in ausladenden Rollenspielen wie Diablo IV oder Legend of Zelda zu Hause. Fussballer kicken in EA FC das Runde in das Eckige, und clevere Games wie Gerda: A Flame in Winter lassen die Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen. Super Mario hüpft um die Wette, während im Landwirtschaftssimulator Felder bestellt werden.
Selbst für Häme hätte es Platz
Diese Genre-Vielfalt bringt es auch mit sich, dass nach der Flut von Comic-Verfilmungen, deren Popularität sich im Sturzflug befindet, Hollywood auf Game-Adaptationen umgeschwenkt hat, in der Hoffnung weitere Hits wie «The Super Mario Bros. Movie» (2023, Box Office: $ 1,36 Milliarden) zu landen und kolossale Bauchlandungen wie «Borderlands» – trotz Cate Blanchett und Jamie Lee Curtis – zu vermeiden (2024, Box Office: $ 33 Millionen). TV-Serien wie «The Last of Us», «Fallout» oder «The Witcher» schneiden im Vergleich wesentlich besser ab. Streaming-Anbieter Netflix entwickelt in Eigenregie Computerspiele und präsentiert unlängst Trailers für neue TV-Serien wie «Tomb Raider» und «Cyberpunk», letzteres ein polnischer Game-Hit, in dem Avatare der Hollywood-Stars Keanu Reeves und Idris Elba mitwirken.
Selbst für Häme gäbe es Platz, denn wie die Gaming-Website Kotaku meldet, ist die diesjährige Lancierung des rund 400-Millionen-Dollar teuren Videospiels «Concord» für Sonys Playstation 5 und PC der grösste Flop der Entertainment-Geschichte. Das Shooter-Spiel verkaufte lediglich geschätzte 25’000 Kopien, und zu keiner Zeit spielten mehr als 700 Personen gleichzeitig das Game auf PC. Nach zwei Wochen zog Sony den Stecker und der gross angekündigte «Knaller» verschwand spurlos. «Concord» sorgte für eine Million Einnahmen und einen Verlust von $ 399 Millionen. Selbst Disneys Science-Fiction-Abenteuer «John Carter» (2012), das bis dato als Super-Banane galt, setzte «nur» $ 255 Millionen in den Sand. Laut Kotaku hat kein Mainstream-Medium darüber berichtet.
Auf einer rationalen Ebene gibt es keinen Grund, warum Videospiele aus den Mainstream-Medien verbannt sind. Die oft gehörte Begründung «Wer sich für Games interessiert, holt sich die Informationen dazu online», offenbart ein eigenwilliges Verständnis des Medienmarkts und stellt eine redaktionelle Bankrotterklärung dar. Online finde ich zu jedem Thema aktuelle Informationen – ob diese vertrauenswürdig sind, ist eine andere Frage. Bei der Berichterstattung zu Games geht es gerade nicht um deren Fans, sondern um alle andern: die Ü55-Gelegenheitsspielerinnen, Nichtspielende, Eltern, Grosseltern, Lehrpersonen, Kinderärztinnen, Sozialarbeiter, usw. die gerne wüssten, was in der digitalen Unterhaltungswelt geschieht, in der sich gemäss der Langzeit-Studie «James» der ZHAW über 90 Prozent der männlichen und zwei Drittel der weiblichen Schweizer Jugendlichen regelmässig bewegen. Und natürlich auch, ob es etwas Neues gibt, das die Casual Gamerinnen und Gamer ansprechen könnte, denn die erwähnten Online-Plattformen bedienen gerade sie nicht.
«Ich bin halt kein Gamer»
Das eigentliche Totschlag-Argument der Redaktorinnen und Redaktoren aber ist: «Ich bin halt kein Gamer.» Und damit sind wir beim Kern des Themas: Inhalte richten sich nicht nach dem potenziellen Interesse der Leserschaft und einer möglichen Verjüngung dieser, sondern nach dem persönlichen Gusto der Entscheidungsträgerinnen und -träger. Hier verquickt sich Arroganz mit Ignoranz zum unheiligsten Amalgam der Medienwelt. Die Inhalte von Zeitungen, Radio- und TV-Sendungen, Podcasts und welches mediale Format auch gewählt wird, haben sich nicht nach Interessen der Redaktorinnen und Redaktoren zu richten, sondern nach der sich laufend verändernden Weltlage, zu der auch kulturelle Ausdrucksformen gehören.
Die Aufgabe von Mainstream-Medien besteht darin, Nichtfachleuten den Zugang zu den verschiedensten und nicht selten komplexen Themen auf eine verständliche und fachkompetente Weise zu verschaffen. Ich habe hier das Thema Videospiele als Aufhänger gewählt, weil es mein Fachgebiet ist, aber es kann auch irgendein anderer Bereich sein.
Diese Kurzsichtigkeit und der Mangel an Offenheit stimmen mich nachdenklich, bin ich doch von der Wichtigkeit des Journalismus, besonders im Kontext der zersetzenden Wirkung von sozialen Medien auf die Demokratie, überzeugt. Aus diesem Grund habe ich auch bei meinem aktuellen Medienkompetenz-Förderungsprojekt «Digital-Media-Insight Plus» einen Workshop zu «Journalismus und Demokratie» geführt, um die Schülerinnen und Schüler der Kantonsschule Uster sowie der Obersee Bilingual School OBS für die «4. Macht» zu begeistern. Kein einfaches Unterfangen, in Anbetracht dessen, dass mehr Schweizer Haushalte über ein Streaming- als ein Zeitungsabonnement verfügen.
Zum Glück teilt eine gute Handvoll engagierter Schülerinnen und Schüler diese Sicht der Dinge und schreibt nun den monatlichen «Cyberia»-Newsletter über ihre Erfahrungen in der digitalen Welt. Ihre Beiträge, ihre Gedanken füllen einen kleinen Teil des Vakuums, das in den vergangenen gut zehn Jahren entstanden ist.
Zementierung von Vorurteilen
Die Folgen der medialen Informationsdürre sind gravierend. In diesem Niemandsland haben sich wissenschaftlich längst widerlegte Vorurteile wie «Games führen zu Gewalt in der Gesellschaft» in vielen Köpfen besorgter Eltern verfestigt. Gross ist auch die Angst, dass Computerspiele süchtig machen, aber bis dato ist dies zum Glück nicht der Fall. Videospiele werden vielmehr als Krücken eingesetzt, um dem Stress, der aus einer anderen Situation erwachsen ist, zu begegnen. Sich in Game zu verabschieden, weil man das Gekeife der scheidenden Eltern nicht mehr aushält, an der Schule gemobbed wird oder die Mutter todkrank ist und man sich ohnmächtig fühlt, ändert leider nichts an der Belastung und führt auch zu keiner Besserung. Games funktionieren hier wie Warnlichter und können auf Missstände im Leben der Betroffenen hinweisen. Aus meiner Sicht liegt die grösste Gefahr von Computerspielen darin, dass sie von ernsthaften Problemen ablenken, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Insbesondere in solchen Ausnahmesituationen hilft die fortschreitende Gamblification nicht. Vermehrt werden problematische Glücksspielmechanismen, Dark Patterns und andere psychologisch raffiniert unterfütterte Bindungsmechanismen in den weit verbreiteten Gratis-Spielen eingesetzt. Sich diesen zu entziehen, wird laufend schwieriger.
Über solche unerfreulichen Entwicklungen ist in unseren Tages- und Wochenzeitungen kaum etwas zu erfahren, sind doch manche Kultur- und Gesellschaftsredaktoren der Meinung, dass «Games ein Nischenprodukt sind». Ein noch viel übleres Thema ist übrigens die Instrumentalisierung von Videospielen durch Terroristen und Extremisten. In diesem Zusammenhang nahm zumindest die NZZ am Sonntag den Ball auf. Gleich zweimal räumten die Ressorts Hintergrund und Report und Debatte der Verbreitung von totalitären und extremistischen Ideologien über Game-Plattformen Platz ein. Schliesslich sind Videospiele längst zu sozialen Netzwerken mit einem gemeinsamen Nenner, dem Spielinhalt, mutiert.
Bessere Chirurgen dank Games
Erfreulichere Themen wie die Verbesserung der Präzision und Geschwindigkeit gamender Chirurgen bei laparoskopischen Operationen, die Steigerung kognitiver Fähigkeiten bei der regelmässigen Nutzung von Action-Games oder dass post-traumatische Stresssymptome nach einer schweren Geburt oder einem Unfall durch das Spielen von simplen Spielen wie «Tetris» reduziert werden können, schaffen es selten bis gar nicht auf die Seiten der Ressorts «Wissen» oder «Gesellschaft». «Zu marginal» lautet hier die Begründung. Nicht besser ergeht es dem Schweizer E-Sport, der professionellen Spielvariante von Games. Als die E-Sports-Mannschaft des FC Basel es im vergangenen Jahr in das Finale der «Fifa»-Weltmeisterschaften in Riad geschafft hatte, wurde nicht darüber berichtet.
Als ich einer Redaktionskollegin erzählte, dass sich der erste Beitrag zu Videospielen im Blick zum 30. Mal jährt, und ich ihr die Anekdote mit Fridolin Luchsinger erzählte, meinte sie trocken: «Damals hatten die Chef-Redaktoren noch Mut.» Für mich ist es weniger eine Sache von Mut, sondern Offenheit und das Vertrauen in die Sachkompetenz der Mitarbeitenden. Betrachtet man die Branchendaten des Verlegerverbands, zeigt sich ein düsteres Bild: Die verbreitete Auflage hat sich von 9,2 Millionen (2009) auf 4,5 Millionen (2023) mehr als halbiert. Die Zahl der Titel ist von 312 auf 245 zurückgegangen.
Preise für innovativen Journalismus
Die bisherige (Spar-)Politik hat den Abwärtstrend nicht wirklich stoppen können, sondern vielmehr zu einem Klima der Angst unter Journalisten geführt, die um ihren Job bangen. Keine gute Ausgangslage für «mutige» Entscheidungen. Ohne mir unternehmerisches Know-how anzumassen: Vielleicht ist es an der Zeit, mit mehr Offenheit und Vertrauen in das Wissen der Mitarbeitenden Themen aufzubereiten, die eine potenzielle Leserschaft gewinnen können. Ein Vorzeigebeispiel hierfür ist das Erklärvideo der NZZ «Ist Selenski Milliardär?» zu Investigativ-Journalismus. Dieses habe ich mit Erfolg in meine Workshops eingebaut. Dass es unlängst mit einem «Medienpreis für Qualitätsjournalismus» ausgezeichnet wurde, hat mich für die Videojournalistin Jasmine Jacot-Descombes und den Videojournalisten Florentin Erb sehr gefreut, denn es zeigt in wenigen Minuten auf, wie wichtig die Arbeit von Mainstream-Medien heute ist. Die Jury erkannte auch, dass mit dem Clip ein jüngeres Publikum auf Youtube erreicht werden kann.