Mit dem Spiel-Film «Late Shift» hat der Schweizer Filmemacher Tobias Weber die Türe zu einer neuen Filmära aufgestossen: Den interaktiven Film. Dahinter steckt die von ihm mitentwickelte Technologie CtrlMovie. Die gleichnamige Firma wurde nun verkauft, und Weber ist mit seiner Familie nach Los Angeles gezogen. Im Interview spricht Tobias Weber über die Entstehung der Technologie, warum die Verhandlungen mit Hollywood so lange gedauert haben und was die Zukunft bringen wird.
Wann und wo wurdest geboren?
Valentinstag 1977 in Zürich.
Was waren deine Eltern von Beruf?
Meine Mutter schaute nach uns Kindern, während mein Vater für die Swissair Flugzeuge um die Welt pilotierte.
Hast du Geschwister, was machen die? Sind sie älter oder jünger oder beides?
Ich bin mit zwei jüngeren Schwestern aufgewachsen. Die eine arbeitet als Designerin bei einer Firma für Outdoorequipment, die andere betreut ihre vier Kinder.
Woher rührt deine Faszination für Film?
Da muss ich wohl das alte Klischee bedienen – ich habe schon als Primarschüler mit der Video 8 Kamera meine Legos animiert. Bis heute fasziniert mich Film aber wegen seiner Kraft, Menschen in andere Welten zu entführen, emotional mitzureissen, mit Fragestellungen zu konfrontieren und hoffentlich auch zum Denken anzuregen.
Wann hast du die Werbefilmagentur &Söhne gegründet?
&Söhne habe ich 2004 gegründet. Baptiste Planche ist 2010 dazugekommen.
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Baptiste kannte ich schon länger. Seine heutige Frau Jeanne hat mit mir zusammen die Filmschule in London besucht.
Wie bezeichnet man eure Agentur richtig und was zeichnete sie aus?
&Söhne wurde als Experiment gegründet, und diesem Spirit blieb man eigentlich immer verpflichtet. Wir wollten inspirierende Werbung machen, und wir versuchten stets zu kreieren, was wir als Konsumenten selber hätten sehen wollen.
Wer kam wie und weshalb auf die Idee von CtrlMovie?
CtrlMovie entstand eigentlich aus dieser Bewegung heraus. Die normalen, geschalteten Werbespots fingen uns an zu langweilen, und wir waren auf der Suche nach neuen Werbeformen. Branded Entertainment war damals das Schlagwort der Stunde in London, und wir versuchten dieses Konzept in der Schweiz einzuführen. Dabei kam ich auf die Idee, Game und Film in einem neuartigen Erlebnis zusammenzuführen.
Bist du ein Gamer?
Als Kind habe ich tagelang das deutsche Rollenspiel Das Schwarze Auge und später Point-and-click-Adventures gespielt. Noch heute mag ich Puzzle-Games wie Rubek oder Euclidian Lands.
Das schwarze Auge – Deutschlands erfolgreichstes Rollenspiel.
Was ist CtrlMovie?
CtrlMovie – ausgesprochen Control Movie – ist ein neues Filmformat, das dem Zuschauer erlaubt, für den oder die Protagonisten Entscheidungen zu treffen und somit den Verlauf der Geschichte massgeblich zu beeinflussen. Entscheidungspunkte gibt es alle paar Minuten, und man hat dann auch nur wenige Sekunden Zeit, sich zu entscheiden, denn der Film hält nie an – genau wie das echte Leben auch nicht wartet.
Wie viel Arbeit steckt im Programm/der Technologie? Wer hat sie für euch entwickelt?
Die Technologie von CtrlMovie ist über die letzten Jahre gewachsen – unterdessen sind da also unzählige Stunden reingeflossen. Begonnen hat es mit einem Test, den ich mit einem Kollegen umgesetzt habe, dann sind Freelance Programmierer hinzugekommen. Nicht nur gibt es Player für Kino, Konsolen, PC, AppleTV und iOS, sondern auch die ganzen Tools welche Filmemacher benötigen, um die Filme herzustellen. Im Moment fahren wir ein ganzes Entwicklerteam hoch, um die neuesten Ideen umzusetzen.
Wie habt ihr damals Late Shift finanziert? Das BAK hat ja nix dazu beigesteuert, Pro Helvetia und SRF schon.
Late Shift war ja der erste Spielfilm im CtrlMovie-Format, das zu dieser Zeit noch niemand kannte. Finanzierung für ein solches Projekt zu finden, war gar nicht mal so einfach, denn es fiel irgendwie zwischen Stuhl und Bank, da es weder Film noch Game im klassischen Sinne war. Grundsätzlich stiessen wir auf Skepsis und Ablehnung. Die positiven Ausnahmen stellten die SRF und Pro Helvetia dar, welche die visionäre Qualität unseres Projekts erkannten und unsere gewagten Ambitionen teilten. Den Rest des Geldes trieben wir privat von verschiedenen Investoren auf, welche sich glücklicherweise für die Idee begeistern liessen.
Du hast das Drehbuch von Late Shift geschrieben. Woher hattest du die Erfahrung, ein Skript zu verfassen?
Erfahrung ist in diesem Zusammenhang wohl ein grosses Wort. Ich hatte an der Filmschule Scriptwriting Classes belegt, und ich habe ein zwei Kurzfilme geschrieben. Late Shift war aber mein erster Spielfilm, der zudem noch mehrere Handlungsstränge aufwies. In vielerlei Hinsicht hab ich hier also Neuland betreten.
Mit Late Shift kam erstmals ein nahtloser interaktiver Film in die Kinos.
Worin unterscheidet sich ein Skript auf CtrlMovie-Basis von einem herkömmlichen Drehbuch? Wie geht man die Konstruktion eines Entscheidungsbaums heran?
Vieles ist vergleichbar mit einem normalen Film. Grundlage ist immer erstmal eine gute Geschichte mit interessanten Charakteren. Dann aber beginnt man, sich Gedanken zum Entscheidungssystem zu machen. Wann und für wen sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer entscheiden können? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus. Inwiefern beeinflusst das die Aussage der Geschichte, et cetera. Diese Fragen passieren alle auf Treatment-Ebene, also noch bevor man sich an die Dialoge und Details macht. Die feine Verästelung kommt dann im letzten Schritt. Zum Glück haben wir unterdessen eine Software, welche das Verfassen von Drehbüchern im CtrlMovie Format stark vereinfacht.
Wie viele Stunden Material habt ihr damals für Late Shift gedreht bzw. wie viel steckt im Endprodukt?
Oh, wieviel wir gedreht haben, weiss ich nicht mehr. Wir haben aber definitiv mehr und länger gedreht als für einen vergleichbaren Spielfilm. Für Late Shift haben wir etwas mehr als vier Stunden Material finalisiert – während eine Vorführung des Films zwischen 70-90 Minuten lang ist.
Werden die Produktionskosten nicht explodieren, wenn sich interaktiver Film durchsetzt?
Ja und nein. Wie bei jedem herkömmlichen Film ist das Budget auch im Fall von CtrlMovie von vielen kreativen Entscheidungen abhängig – man hat hier also einigen Einfluss, welche Komplikationen man zulässt und welche man lieber elegant umschifft. Gleichzeitig gibt es auch viele Synergieen zwischen den Alternativen, weshalb der Film nicht plötzlich dreimal so teuer wird. Ein zusätzlicher Aufwand lässt sich aber nicht leugnen.
Late Shift kann man alleine oder zusammen mit anderen Leuten schauen oder in einem gewissen Sinne spielen. Solche Vorführungen sind etwas Spezielles. Was war die tollste Erfahrung bis dato?
Stimmt. CtrlMovie kann man alleine spielen, oder aber zusammen, und zwar zu Hause wie im Kino. Vorführungen mit vielen Leuten haben einen speziellen Charme. Es wird immer viel gelacht oder auch mal gebuht, wenn man mal nicht einverstanden ist mit der Mehrheit im Saal. Highlights waren sicher die Vorführung in Locarno vor fast 2000 Leuten, oder in Los Angeles an der AT&T Shape Show im grossen Kino der Warner Bros Studios. Die Leute sind am Schluss auf den Stühlen gestanden und haben geschrieen. Das war sehr eindrücklich.
Welche Art von Geschichten eignen sich für die Ctrl-Movie-Technologie?
Wir sind der klaren Meinung, dass sich fast jede Geschichte und jedes Genre eignen kann. Entscheidungen zu treffen und treffen zu müssen ist etwas zutiefst Menschliches, die Dilemmata, welche daraus resultieren können, kennen wir alle aus unserem Leben. Dass der CtrlMovie Film einem nun erlaubt, spielerisch damit umzugehen, und sogar zurückblättern zu können, um eine Entscheidung noch einmal anders zu fällen, fasziniert viele Leute. Von dem her dünkt mich das Format eigentlich sehr universell.
Du bist im Herbst 2017 nach Silverlake ausgewandert, warum?
Ich pendelte seit Anfang 2017 ständig zwischen Zürich und Los Angeles hin und her, weil sich einfach gezeigt hat, dass wir in Hollywood unglaublich viel mehr bewegen können als in Zürich oder London. Die grossen Entscheidungen des Filmbusiness werden schlicht und einfach in LA gefällt, und da wir Grosses vorhatten für CtrlMovie, mussten wir da hin. Meine Familie ist seit ein paar Tagen auch in Silverlake angekommen, und wir fühlen uns schon recht heimisch. Sogar die Katze scheint sich recht gut eingelebt zu haben.
Wie lebt es sich in Los Angeles? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?
Ich muss sagen ich kannte Los Angeles wenig bis gar nicht, als ich vor einem Jahr zum ersten Mal hierher kam. Anfänglich fiel es mir etwas schwer, mich zu orientieren, die Stadt funktioniert ganz anders als Orte wie London oder New York, welche mir näher standen. Es ging aber nicht lange und ich freundete mich an. LA hat ganz viele extrem hübsche Seiten, und ist viel ruhiger und weniger dicht als andere Grossstädte. Ich fühle mich hier unterdessen sehr wohl.
Wie lange haben die Verhandlungen gedauert? Ihr hattet tolle Kritiken, da hätte man ein schnelles Zuschlagen erwartet.
Tatsächlich hat es über ein Jahr gedauert, bis wir endlich die lang ersehnten Verträge mit Studios und Investoren unterzeichnet hatten. Das mag sehr lange erscheinen, und natürlich sind wir manchmal auch fast verzweifelt, wenn wir – wohl aus verhandlungstaktischen Gründen – zwischendurch wochenlang keine Antwort mehr kriegten. Gleichzeitig muss man aber auch wissen, dass Hollywood einfach so arbeitet. Praktisch jeder Film wartet Jahre darauf, Grünes Licht für die Produktion zu erhalten. Von dem her muss man sagen, sind wir eigentlich richtig schnell unterwegs.
Taten sich die Studios doch etwas schwer mit der Idee eines interaktiven Filmformats?
Wir hatten eine Huhn-Ei-Situation. Die Kinobetreiber stellten sich auf den Standpunkt, dass sie ihre Säle sicher nicht umrüsten, wenn es nur 1–2 interaktive Filme gibt. Die Studios wiederum waren der Meinung, dass sie keine Filme produzieren, solange keine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht. Wir konnten dieses Problem nur knacken, wenn wir alle von der CtrlMovie-Idee begeistern. So haben wir die Leute von Fox in ein AMC-Kino eingeladen, damit sie gemeinsam Late Shift erleben konnten. Dieses gemeinsame Erlebnis löste eine Kettenreaktion aus.
Fox hat Ende April eine grosse Kiste angekündigt: Sie wollen mit der CtrlMovie-Technologie die «Interaktiven» Kinderbücher der Choose-Your-Own-Adventure-Serie umsetzen? Das ist ja ein perfekter Match.
Das ist richtig, doch fast wäre es nicht soweit gekommen.
Warum?
Die Besitzer der Rechte der «Choose Your Own Adventure»-Bücher hatten ursprünglich ausdrücklich eine Auswertung als interaktiver Film durch Fox ausgeschlossen, weil die Versuche bis zu diesem Zeitpunkt katastrophal waren. Erst als sie Late Shift gesehen hatten, liessen sie sich umstimmen.
Gratuliere!
Danke, die Ankündigung von Fox ist für uns ein wichtiger Meilenstein, und wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit. Die «Choose Your Own Adventure»-Bücher funktionieren tatsächlich nach genau dem gleichen Prinzip und wurden von Millionen von Kindern gelesen. Sie geniessen im englischsprachigen Raum Kultstatus, und entsprechend freut es uns natürlich sehr, dass CtrlMovie bei deren Verfilmung zum Einsatz kommt.
Was bedeutet das nun für dich, dass CtrlMovie von Aviron gekauft wurde?
Die Investition von Aviron ist für uns eine grosse Erleichterung, denn wir brauchten dringend neues Kapital, um CtrlMovie weiter zu betreiben und auszubauen. Wir haben überall auf der Welt – auch in der Schweiz und im Silicon Valley – nach Investoren gesucht und sind auch auf viel positives Echo gestossen. So zeigen sich Paramount und Sony Pictures an der Technologie interessiert. Trotzdem wurde klar, dass nur ein Investor, der das Filmgeschäft in- und auswendig kennt, sich auf dieses Venture einlassen würde. Dank Aviron geht die Geschichte von CtrlMovie nun weiter.
Nebst dem, dass CtrlMovie ein nahtloses interaktives Kinoerlebnis bietet, warum meinst du, dass es jetzt geklappt hat?
Der Markt hat sich in den letzten Jahren mit dem Auftritt von Netflix und Amazon im Bereich der Kino- und TV-Produktionen markant verändert. Das haben die traditionellen Studios auch gemerkt. Sie müssen etwas tun. Die CtrlMovie-Technologie passt in das Maya-Prinzip – most advanced yet acceptable –, das für die Akzeptanz einer neuen Technologie vorausgesetzt wird. Sie ist nicht zu abgehoben und baut auf bekanntem Boden.
Welche Beziehung besteht zwischen der Firma Kino Industries und CtrlMovie?
Kino Industries fasst einerseits die schweizerische CtrlMovie AG, andererseits die in Hollywood ansässige Produktionsgesellschaft Silvatar Media unter einem Dach zusammen. Die Studios vermittelten uns klar, dass sie sich nicht auf eine reine Technologiefirma einlassen mochten, und somit war der Zusammenschluss mit lokalen Filmproduzenten, welche im Studiosystem fest verwurzelt waren, ein wichtiger strategischer Schritt, ohne welchen wir CtrlMovie unmöglich hätten in Hollywood lancieren können.
Du bleibst mindestens für zwei weitere Jahre für Kino Industries tätig. In welcher Funktion?
Ich liess mich als Co-CEO für Kino Industries verpflichten. Und natürlich werde ich weitere Filme im CtrlMovie Format entwickeln – als Produzent wie auch als Writer/Director.